Die Stimme des Engels
«Last Christmas», die Titelmelodie von «Drei Nüsse für Aschenbrödel» oder doch eher die Adventskantaten von J. S. Bach? Welches ist Ihr Ohrwurm in der Advents- und Weihnachtszeit? Man kann sich kaum entziehen. Ob man will oder nicht: Engel, Lametta und Zimt sind gerade überall zu sehen und zu riechen. Und womöglich bekommt man einmal zu viel ein Anis-Güetzi angeboten. Oder einmal zu wenig. Da scheiden sich ja bekanntlich die Geister. Den einen ist das alles zu kitschig. Andere gehen in diesen Wochen bis Weihnachten auf. Es ist auf jeden Fall eine besondere Zeit. Es ist auch eine Zeit, in der die Erwartungen hoch sind. Christa Spilling-Nöker hat zu diesen Erwartungen ein Gedicht geschrieben:
«Warte nicht darauf,
dass aus den Wolken
zu dir ein Engel hinabsteigt
mit lockigem Haar
und Flügeln aus Gold.
Nimm seine Stimme wahr
in jedem Wort,
das dich wärmt,
in jedem Gedanken,
der dich aufrichtet,
in jeder zärtlichen Geste,
die dein Herz berührt.»
Es soll harmonisch und feierlich sein. Magisch und zauberhaft. Eben wie ein Engel mit lockigem Haar und Flügeln aus Gold, der ungefragt vom Himmel kommt. Es soll perfekt sein für die Kinder und für die Erwachsenen entschleunigt. Und ganz oft ist die Zeit vor Weihnachten auch tatsächlich magisch. Überall brennen Kerzen. Es glitzert und schimmert um die Wette in den Schaufenstern, an den Weihnachtsbäumen und in den Augen der Kinder.
Und trotzdem kann allein beim Wort «Entschleunigung» paradoxerweise der Stresslevel steigen. Und «perfekt» ist, das wissen wir, ein schwieriger Anspruch. Eigentlich können wir daran nur scheitern. Dabei hat uns gerade das erste Weihnachten etwas anderes gezeigt. Nämlich dass das Leben und die Liebe nicht perfekt sein müssen. Die Liebe hat ein Kind zu Fuss in kalten Nächten nach Bethlehem getragen. Das Leben kam in einem einfachen Stall zur Welt. Es war alles andere als perfekt. Und auch wie die Geschichte weiterging; daran war nichts romantisch oder kitschig. Denn nach der Geburt von Jesus kam die Flucht. Und trotzdem waren da Engel. Menschen, die halfen. Gedanken, die Hoffnung machten. Und so kann es auch für uns sein. Um besonders zu sein, müssen unsere Advents- und Weihnachtstage nicht so sein, wie es in den Weihnachtsliedern und -filmen beschrieben wird. Wir dürfen auch mal gestresst und wütend sein. Oder traurig und enttäuscht. Und trotzdem können wir auf das hören, was zwischen den Zeilen klingt. Dem nachspüren, was gut tut. Den Blick auf das richten, was durch den Seeländer Nebel hindurch schimmert.
Möge Ihnen allen in dieser kommenden Zeit ab und zu ein Engel begegnen. In Worten, Gedanken und Gesten. Ein Engel, der vielleicht nicht perfekt ist und trotzdem oder gerade deswegen Ihr Herz berührt.
Lea Wenger, Pfarrerin